Pressemitteilung
14.04.2015

Governance Report: EU darf Durchwursteln im Krisenmodus nicht zum Prinzip machen

Hertie School veröffentlicht Analyse der jüngeren EU-Politik

Download: Der Governance Report 2015

Berlin, 14. April 2015 – Seit Ausbruch der Eurokrise steuern die nationalen Regierungschefs die Eurozone auf Sicht. Als explorative Governance bezeichnen die Autoren des Governance Report 2015 der Hertie School diese Regierungsführung und äußern Verständnis für das vorsichtige Voranschreiten zu Beginn der Krise. Allerdings bringe die jüngere EU-Politik aus wissenschaftlicher Perspektive die Gefahr weiterer Legitimitätsverluste mit sich. Deswegen warnen die Autoren Henrik Enderlein, Mark Dawson und Christian Joerges davor, die Politik des Durchwurstelns zum System zu machen. Es drohe nicht nur die dauerhafte wirtschaftliche Instabilität, sondern auch wachsender politischer Protest, der sich mehr und mehr zu fundamentaler Kritik an der EU entwickele. Der Governance Report 2015 erscheint bei Oxford University Press und wird heute (14. April) in Berlin vorgestellt. Die Hauptrede hält der ehemalige italienische Ministerpräsident Enrico Letta.


Anhand des für den Governance Report entwickelten Indikatoren-Systems zeigt Koautor Liam McGrath, wie sich die Volkswirtschaften der Euroländer mit Einführung der Gemeinschaftswährung kontinuierlich zuerst anglichen, seit 2007 aber wieder stark auseinanderentwickelten, insbesondere durch das Abdriften der Krisenländer Griechenland, Italien, Irland, Spanien und Portugal. Das Vertrauen in die EU-Institutionen ist in diesen Ländern von Spitzenwerten 2004 auf ein Rekordtief im Jahr 2013 gefallen. Das Vertrauen in die jeweilige nationale Regierung litt im gleichen Zeitraum weniger. Anders in den EU-Ländern außerhalb der Eurozone mit ähnlich hoher Arbeitslosigkeit: Dort büßten die nationalen Regierungen Vertrauen ein, während die EU-Institutionen stabile Werte aufweisen. Dazu Henrik Enderlein, Professor für politische Ökonomie an der Hertie School: „Europa ist zum Sündenbock für die Misere in den Krisenländern geworden. Das ist brandgefährlich, denn die Krise kann nur gemeistert werden, wenn Nationalstaaten und EU gemeinsam handeln. Eine offene Konfrontation, wie wir sie jetzt ja auch mit Griechenland sehen, schadet dem Euro.“

Die explorative Governance sei entstanden, weil die Regierungschefs während der Finanzkrise die Folgen ihrer Entscheidungen nicht hätten absehen können. Aus der anfänglichen Notlösung sei ein neuer Stil der Regierungsführung entstanden. Dieser müsse nun dringend überdacht werden. „Diese Form des Regierens bietet keine Gewähr für wirtschaftliche, politische und soziale Stabilität“, so der Rechtswissenschaftler Christian Joerges. Der Politik geben die Autoren unter anderem folgende Empfehlungen:

Die politische Rechenschaftslücke schließen:
Mark Dawson, Professor für EU-Recht und -Governance, erläutert: „Ironischerweise ist mit der Europäischen Zentralbank die handlungsfähigste Institution auch die, die der Öffentlichkeit am wenigsten Rechenschaft ablegen muss. Sie steht beispielhaft für die Übermacht der Exekutive – die ja nur indirekt legitimiert ist. Deswegen ist es dringend notwendig, die Parlamente auf nationaler und europäischer Ebene zu stärken.“ So sollte sich das Europäische Parlament an einem „wirtschaftspolitischen Dialog“ mit anderen EU-Institutionen beteiligen und bei den Schlüsselinstrumenten der finanzpolitischen Steuerung ein Veto ausüben können. Der dabei zu erwartende politische Streit sollte nicht abgewürgt, sondern akzeptiert werden, da gerade durch kontroversen Dialog innovatives Potenzial entstehe.

Die Beziehung zwischen Solidarität und Konditionalität überdenken:
Die EU brauche ein Programm, das einen „Lender of last resort“ gewährleistet, ohne dabei Anreize für eine unverantwortliche Fiskalpolitik zu schaffen. So könnte beispielsweise eine EU-Schuldenagentur geschaffen werden, die nur dann in den Haushalt der Mitgliedsstaaten eingreifen darf, wenn deren Schuldenstand eine bestimmte Stufe übersteigt. Dies würde die Beziehung zwischen Solidarität und Konditionalität transparenter, berechenbarer und legitimer gestalten.

Die Volkswirtschaften der Eurozone angleichen:
Wirtschaftsstrukturen und -zyklen müssten angeglichen werden. Denn momentan prägten größtenteils inländische Faktoren die Entwicklung der Volkswirtschaften, was asymmetrische Schocks begünstige, die wiederum die Eurozone als Ganzes destabilisieren könnten. Um diese zu verhindern, seien neben strukturellen Reformen auch Mechanismen nötig, die automatisch für einen Ausgleich zwischen konjunkturell gegenläufigen Ländern sorgen.

Über den Governance Report

„The Governance Report 2015“, hrsg. von der Hertie School, ist bei Oxford University Press erschienen. Der Begleitband zu allen Themen des Reports mit Beiträgen unter anderem von Michelle Everson, Marcel Fratzscher und Jean Pisani-Ferry erscheint voraussichtlich im November 2015. Unter www.governancereport.org finden Sie weiteres Material zum Governance Report, darunter die interaktive Webanwendung der Governance-Indikatoren.

Die jährlich erscheinende Publikation beleuchtet jeweils spezielle Governance-Herausforderungen, stellt innovative Entwicklungen in diesem Bereich vor und bietet Analysen auf Basis neu entwickelter Indikatoren. Der Governance Report berücksichtigt dabei besonders die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Staaten sowie zwischen Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Mit anwendungsbezogenen Analysen und konkreten Empfehlungen an die Politik will das beteiligte Wissenschaftlerteam zur Erklärung und Lösung aktueller Governance-Probleme beitragen.

Autoren des Governance Report 2015:

  • Mark Dawson, Professor of European Law and Governance, Hertie School
  • Henrik Enderlein, Associate Dean and Professor of Political Economy, Hertie School
  • Christian Joerges, Professor of Law and Society, Hertie School
  • Liam F. McGrath, Research Associate, Hertie School


Die Vorstellung des Governance Report am 14. April 2015 um 18:30 Uhr ist presseöffentlich. Um Anmeldung unter pressoffice[at]hertie-school[dot]org wird gebeten.