Meinung
14.04.2020

Sommerferien anders denken – Handlungsspielräume für Familien schaffen

Ein Denkanstoß aus dem Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen des Bundesministeriums für Familienfragen (BMFSFJ) von Michaela Kreyenfeld und Koautoren.

Die Nachricht, dass sich die Wachstumsrate der Corona-Neuerkrankungen langsam abflacht, lässt sachte Hoffnung aufkeimen, dass wir in absehbarer Zeit mit einer Lockerung der Maßnahmen rechnen dürfen. Zum „Normalprogramm“ werden wir dennoch so bald nicht zurückkehren. Nach „flatten the curve“ wird „keep the curve flat“ kommen – mit der Konsequenz, dass in diesem Jahr ein gemeinsamer Besuch des Weihnachtsmarktes realistischer sein wird als der des Freibades. 

Der Sommer 2020 wird ein anderer sein: keine Fernreisen mit der Familie, wahrscheinlich sogar kein oder nur ein eingeschränkter Urlaub in Deutschland außerhalb der eigenen vier Wände. Auch die Fahrt der Kinder zu den Großeltern ist fraglich. Hinzu kommt, dass viele Eltern mit Existenzängsten in den Sommer schauen werden. Ist der Job noch sicher? Müssen Arbeitsstunden nachgeholt werden? Vielleicht mussten Urlaubstage genommen werden, da das Homeoffice mit Klein- und Schulkindern nicht durchgängig geklappt hat. Familien sind besorgt, ob das Geld reicht, nachdem ein Elternteil in Kurzarbeit gehen musste. 

Spätestens zu Pfingsten bahnt sich die Frage an: Wie lässt sich die Betreuung der Kinder während der Sommerferien sicherstellen? Obwohl die Frage in jedem Jahr virulent ist, steht sie in diesem Jahr unter anderen Vorzeichen: Wie lässt sich diese ohnehin schwierige Herausforderung bewältigen, wenn man selbst Arbeit aufzuholen hat und ggf. Großeltern nicht einspringen können? Wie und wo können Kinder und Jugendliche ihre Zeit sicher und gut verbringen, wenn mancherorts bereits geplante Freizeitangebote für sie wegbrechen? 

Es ist noch nicht absehbar, welche Auswirkungen die zur Eindämmung der Coronavirus-Infektionsrate ergriffenen Maßnahmen in naher und in ferner Zukunft für Kinder und Jugendliche haben werden. Um diese Wirkungen zu erfassen, benötigen wir sozialwissenschaftliche Forschungsbefunde. Doch bereits jetzt wissen wir, dass die letzten Wochen Unterschiedliches für Kinder und Jugendliche bedeuteten: Viele Eltern, die nicht in der Lage waren, zeitgleich „Homeoffice“ und „Homeschooling“ zu managen und ihre Kinder mit Laptop, Lernprogrammen und anderen Unterstützungsleistungen zu versorgen, sind über kurz oder lang an ihre Grenzen gestoßen. Denn längst nicht alle Haushalte mit schulpflichtigen Kindern verfügen über die notwendige technische Ausstattung oder die finanziellen Ressourcen, um Schulmaterial oder E-Learning Instrumente zu beschaffen. Nicht alle Eltern hatten Zeit oder waren in der Lage, die erforderlichen Kenntnisse des Lernstoffs zu vermitteln. 

Die Corona-Krise hat somit bereits jetzt das Potenzial, sozial bedingte Unterschiede weiter zu verschärfen und die Zukunftschancen von Kindern und Jugendlichen ungleich zu schwächen. Denn es ist nach den Corona-Ferien die Verschärfung eines Effekts zu erwarten, der aus Bildungsforschung und Schulpraxis seit Langem bekannt ist: Die „Bildungsschere“ zeigt sich nach den Sommerferien besonders drastisch. Während Schülerinnen und Schüler aus Haushalten mit vergleichsweise wenig Ressourcen viel Zeit benötigen, um das vorher Gelernte zu aktivieren, können Kinder und Jugendliche aus ressourcenstarken Haushalten Wissen und kognitive Fähigkeiten über die Ferien das Niveau halten oder sogar noch ausbauen. Normalerweise reduzieren sich diese Unterschiede im Laufe des Schuljahres. Die unterschiedlichen Kapazitäten in den Familien werden jedoch dazu führen, dass Unterschiede durch die Corona-Zwangspause noch weiter verstärkt werden. 

Denn noch ist unklar, wie nach den Osterferien mit der Schließung von Kindergärten und Schulen weiterverfahren und ob – und wann – das System wieder „hochgefahren“ wird. Unstrittig scheint aber bislang, dass in den meisten Bundesländern relativ schnell die Sommerferien folgen werden. Für diese Zeit ist eine Planung nötig, die sich auf die Bedürfnisse von Kindern, Jugendlichen und Familien konzentriert. Wir brauchen im Sommer und bis in den Herbst hinein ein breit angelegtes Bildungs- und Begleitungsangebot von guter Qualität und dafür eine breit angelegte gesellschaftliche Solidarität. 

Alle Kinder und Jugendliche brauchen Zeit mit ihrer Familie, für Erholung und selbstbestimmte Aktivitäten, aber in diesem Jahr müssen es vielleicht nicht sechs Wochen, nach einem von der Kultusministerkonferenz vorgegebenen Zeitraster sein. Viele Kinder und Jugendliche werden nach der abrupt eingeleiteten Phase des Homeschooling auf gezielte Lernangebote, auf Unterstützung in einzelnen Fächern, auf kreatives Üben und Wiederholen besonders angewiesen sein. Sie werden auch Personen brauchen, die sie mit ihren Sorgen und Ängsten ansprechen können. Denn mit diesen sind Kinder und Jugendliche ebenso wie Erwachsene in der Pandemie konfrontiert. Solidarität mit Kindern und Jugendlichen heißt 2020, die Sommerferien mit ihnen gemeinsam anders zu gestalten. 

Ihre Eltern werden ebenfalls auf Unterstützung in den Ferienwochen anders als üblich angewiesen sein und einer langen Ferienzeit nicht entspannt entgegensehen. Die wenigsten erwerbstätigen Mütter und Väter werden in diesem Sommer noch genügend Urlaubstage für gemeinsame freie Zeit haben und nur wenige können auf Dauer effizient im Homeoffice arbeiten. Mütter und Väter benötigen darüber hinaus eine Entlastung von der Sorge, dass ihr Sohn, ihre Tochter im neuen Schuljahr den Anschluss nicht finden könnte, weil zu viel versäumt wurde. Besonders auf Erholung und Entlastung angewiesen sind all diejenigen, die aktuell in den verschiedenen systemrelevanten Bereichen außerordentlich gefordert sind, in den Kliniken, den Pflegeeinrichtungen oder den Supermärkten. Auch sie werden beruhigt sein, wenn es eine Planung gibt, die eine gute Balance zwischen entspannter Ferienzeit, Unterstützung beim Lernen und von ihnen unabhängige Freizeitangebote für ihre Kinder gewährleistet. Ohne Zweifel werden sich vor Ort vielfältige ehrenamtliche und andere Aktivitäten entwickeln. Aber das wird nicht ausreichen. Ohne öffentliche Förderung würden viele Familien in dieser Zeit allein gelassen. Es braucht deshalb eine solidarische Teilung von Verantwortung und eine Planung zur Herstellung von Bildungsgerechtigkeit in der Pandemie über den Sommer hinaus. 

Hier sind zuerst die Kultus- und Sozial-, Jugend- und Familienministerien der Länder zusammen mit dem Bund gefordert, sich diesen Herausforderungen gegenüber fachlich angemessen zu verhalten, über nötige, zeitlich befristete Änderungen zu entscheiden und entsprechende Ressourcen unkompliziert bereitzustellen. Darüber hinaus braucht es die Bereitschaft der Lehrerverbände, der Kinder- und Jugendhilfe und anderer Berufsverbände von (Sozial-)Pädagogen, Kinder, Jugendliche und ihre Eltern im Sommer 2020 zu stärken. Insgesamt ist zivilgesellschaftliches Engagement nötig. 

Die Gestaltung der Sommerferien muss konkret vor Ort geschehen. Hier kann an erprobte Konzepte angeknüpft, auf bewährte Formen der Zusammenarbeit zurückgegriffen, Neues, gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen, auf den Weg gebracht werden. An diesen Aktivitäten werden Lehrkräfte ebenso beteiligt sein müssen wie Erzieher und Erzieherinnen und andere pädagogische Fachkräfte. Auch Ehrenamtliche – sofern sie nicht zu den durch das Virus besonders gefährdeten Gruppen zählen – oder Studierende, die in den Sommermonaten Geld verdienen müssen oder anrechenbare Praktika absolvieren wollen, lassen sich einbinden. Es geht aber auch um ganz konkrete finanzielle Hilfen für besonders Bedürftige: Wie wäre es, wenn z.B. das Bildungs- und Teilhabepaket ganz unkompliziert auch Ferienaktivitäten als förderfähig anerkennen würde? Dann wären Familien am unteren Einkommensrand nicht wieder ausgeschlossen.

Vielleicht bietet der Sommer 2020 die Chance, gesamtgesellschaftlich für Bildungsgerechtigkeit und Familienentlastung einzutreten. Dafür müssen neue Wege beschritten werden. 

Von Prof. Dr. Sabine Andresen (Goethe-Universität Frankfurt am Main), Prof. Dr. Michaela Kreyenfeld (Hertie School Berlin), Prof. Dr. Birgit Leyendecker (Ruhr-Universität Bochum), Prof. Dr. Jörg M. Fegert (Universitätsklinikum Ulm), Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist eines der ältesten Gremien der wissenschaftlichen Politikberatung in Deutschland. Nach verschiedenen Zusammensetzungen in der Gründungsphase arbeitet er in diesem Jahr seit 50 Jahren als unabhängiges, interdisziplinäres Gremium von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern (https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/ministerium/behoerden-beauftragte-beiraete-gremien/beirat-familienfragen/wissenschaftlicher-beirat-fuer-familienfragen/74184). Der Beirat äußert sich üblicherweise in abgestimmten Stellungnahmen und Gutachten zu politischen Fragen, mit der wissenschaftlichen Sicht auf Auswirkungen und Bedeutung für Familien. In der momentanen Ausnahmesituation arbeitet der Beirat in unterschiedlichen Konstellationen an Denkanstößen, die online im Beiratsgremium diskutiert, aber nicht formal verabschiedet werden. Gegenstände der Debatte sind u.a. die Renaissance des Haushalts unter Quarantänebedingungen, Homeoffice und Familie; Paarkonflikte, Kinderschutz und Familienhilfen in der Krise, Generationenbeziehungen: Hochrisiko und Pflege. 

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