Meinung
20.07.2018

Wie man mit Populisten streitet

Die Bedrohung durch eine polarisierte Öffentlichkeit überwiegt das Risiko, sich mit Populisten auseinanderzusetzen, sagt Professor Helmut K. Anheier.

In vielen westlichen Ländern haben sich die sozialen und politischen Spaltungen so weit vertieft, dass jeder Versuch diese zu überbrücken sinnlos erscheint. Das hätte man allerdings auch in den 60er Jahren glauben können, einer Zeit, die mindestens ebenso konfliktreich war wir die unsrige. Und doch konnten diese Spaltungen letztlich überwunden werden – der Unterschied lag im Diskurs.

In den 1960er Jahren hingen die Schatten der Erinnerung an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs noch schwer über Europa. In Deutschland führten außenpolitische Herausforderungen wie der Kalte Krieg und innenpolitische Schwierigkeiten wie die erste Nachkriegsrezession und die steigende Arbeitslosigkeit dazu, dass die noch immer fragile demokratische Ordnung durch radikale Kräfte von links wie auch von rechts erschüttert wurde. 1968 brachen überall in den Städten Europas wie auch der USA Studentenproteste aus, die sich nicht nur gegen den Vietnamkrieg, sondern auch und zunehmend gegen das „Establishment“ als solches richteten.

Ähnlich wie heute fiel es auch in den 1960er Jahren Menschen mit unterschiedlichen Auffassungen schwer, miteinander zu kommunizieren. Und dennoch war die öffentliche Debatte der damaligen Zeit von einer Höflichkeit geprägt, von der heute nichts mehr zu spüren ist. Zumindest bei einem Teil der Gesellschaft bestand Einigkeit darüber, dass die Weigerung, sich mit dem politischen Gegner auseinanderzusetzen nur das Gefühl des „Wir-gegen-Euch“ verstärken würde, das auch den Radikalismus schürt.

Hier sei an die öffentliche Konfrontation zwischen Ralf Dahrendorf, einem Mitglied der FDP, und dem radikalen linken Studentenführer Rudi Dutschke am Rande eines FDP-Parteitags in Freiburg erinnert. Dutschke versuchte, Dahrendorf, den liberalen Intellektuellen des Establishments, als ausbeuterisch und undemokratisch zu „demaskieren“; Dahrendorf konterte, indem er Dutschkes revolutionäre Rhetorik als naiv, inhaltsleer und letztlich gefährlich bezeichnete. So sehr die Auffassungen der beiden auch auseinandergingen, so gaben sie sich doch gegenseitig die Chance, ihre Standpunkte zu Revolution, Freiheit und Demokratie zu vertreten.

Die gleiche Haltung ließ sich auch gegenüber der radikalen Rechten beobachten, wie im Falle der NPD, die 1964 aus mehreren rechten Gruppen gegründet wurde. 1967 gewann die NPD bei den Wählern an Zustimmung. Im Zuge einer weitgehend vergessenen, aber bemerkenswerten öffentlichen Debatte versammelten sich an der Universität Hamburg 2.000 Menschen, um an einer Podiumsdiskussion zum Thema „Radikalismus in der Demokratie“ teilzunehmen.

Auf dem Podium saßen neben dem NPD-Vorsitzenden Adolf von Thadden der Verleger der liberalen Wochenzeitung Die Zeit, Gerd Bucerius, der konservative Schriftsteller Rudolf Krämer-Bodoni, der ostdeutsche Anwalt und Politiker Friedrich Karl Kaul sowie wiederum Ralf Dahrendorf. Moderiert wurde die Diskussionsrunde von Fritz Bauer, einem ehemaligen Exilanten, der in den Frankfurter Auschwitz-Prozessen von 1963 bis 1965 als Vertreter der Anklage auftrat.

Zu Beginn der Debatte stellte von Thadden seine politischen Ansichten vor, wobei er die Rolle Deutschlands im Zweiten Weltkrieg und die Gründe für den Aufstieg der NPD ungerührt und ohne jede Reue darlegte. Der Soziologieprofessor Dahrendorf antwortete mit einer Analyse der breitgefächerten Wählerschaft der NPD, die sich aus alten Nazis, desillusionierten Identitätssuchern und opportunistischen Antimodernisten zusammensetzte. Dahrendorf schloss die Bemerkung an, dass er zwar verstehe, wogegen Thadden sich aussprach, nicht aber, wofür der NPD-Vorsitzende eintrat. Spreche er sich denn überhaupt für die Demokratie aus? Bucerius forderte von Thadden später noch direkter heraus und fragte, ob er den Putschversuch gegen Adolf Hitler im Jahr 1944 unterstützt hätte. Bauer warf ein, dass Thaddens Schwester dem Widerstand angehört habe. Thadden vermied eine direkte Antwort, indem er andeutete, dass er sich dem Kampf seiner Schwester nicht angeschlossen hätte.

Dahrendorf vertrat nachdrücklich die Meinung, dass das Schicksal der NPD von den Wählern und nicht von den Gerichten entschieden werden sollte, die die Kommunistische Partei als verfassungswidrig erklärt hatten. Kaul bekräftigte diese Meinung in einer leidenschaftlich vorgetragenen (und zweifellos im Vorfeld mit der ostdeutschen Führung abgestimmten) Stellungnahme zum Ausschluss der westdeutschen Kommunisten von der Debatte. Andere Podiumsmitglieder stimmten dieser Meinung zu. Eine liberale Demokratie, so Dahrendorf abschließend, könne nicht die Radikalen der einen Seite ausschließen, während sie die der anderen Seite tolerierte.

Heute ist es nur schwer vorstellbar, dass etablierte Politiker und bekannte Intellektuelle zusammen mit aufstrebenden Vertretern radikaler Ansichten - ob Populisten, Wirtschaftsnationalisten, Euroskeptikern oder anderen - in so tiefgehenden und von gegenseitigem Respekt geprägten öffentlichen Diskussionsrunden auftreten. Und ganz sicher findet zwischen den Gruppen der extremen Linken und der extremen Rechten keine solche Auseinandersetzung statt. Beide Seiten ziehen es vor, vor eigenem Publikum zu predigen, welches sie über Medienblasen erreichen, in denen für eine ernsthafte Diskussion gegensätzlicher Ansichten kaum eine Nachfrage besteht.

Vielen der heutigen Spitzenvertreter unserer Gesellschaft, der sogenannten Eliten, der Leitfiguren der liberalen demokratischen Ordnung, scheint das Risiko zu groß, sich mit Vertretern radikaler Ansichten auseinanderzusetzen: Mehr Öffentlichkeit könnte zu einer größeren Legitimation führen. Aber diese Haltung birgt wiederum hohe Risiken, nicht zuletzt deshalb, weil sie zu einer vorsätzlichen Blindheit gegenüber jenen gesellschaftlichen Veränderungen geführt hat, aus denen sich extreme Ideologien speisen – eine Haltung, die von vielen als arrogant empfunden wird. Man erinnere sich an die abfällige Äußerung der Präsident­schafts­kandidatin der amerikanischen Demokraten, Hillary Clinton, mit der sie die Hälfte der Anhänger ihres Rivalen Donald Trump als „Korb der Bedauernswerten“ bezeichnete.

Extremisten lassen sich nicht einfach wegwünschen. Radikalen Bewegungen freien Lauf zu lassen, wie von einigen vorgeschlagen, ist nicht nur leichtsinnig, sondern auch gefährlich angesichts des Schadens, den sie anrichten können, bevor sie scheitern. Um ihrer Verantwortung als Hüter des Gemeinwohls gerecht zu werden, müssen die kulturellen und politischen „Eliten“ das Elitedenken zur Seite legen und Formate und Formeln finden, um bei unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen - einschließlich radikaler und populistischer Bewegungen – so schwer dies auch sein mag, mehr konstruktives Engagement zu erreichen.

Zu Recht bezeichnete Dahrendorf bei der Diskussion in Hamburg den Erfolg der Extremisten als ein Maß für das Scheitern der demokratischen Eliten. Wie die NPD in den 1960er Jahren, so verdankt auch die AfD ihren Erfolg in Landtags- und Bundestagswahlen der Weigerung der politischen, wirtschaftlichen und akademischen Eliten des Landes, sich konstruktiv mit der Öffentlichkeit auseinanderzusetzen, geschweige denn mit jenen, die dieser Öffentlichkeit das Gefühl gaben, auf ihre Sorgen einzugehen.

Die Verteidiger der freiheitlichen Demokratie müssen mit Populisten streiten – nicht um deren Haltung zu verändern, sondern um der Öffentlichkeit deutlich zu machen, wofür jede einzelne Partei wirklich steht, und nicht nur wogegen. Ja, dies könnte bedeuten den Populisten mehr Sendezeit zuzugestehen, und es besteht das Risiko, radikale Ansichten zu normalisieren. Und doch sind die Risiken, die mit einer aggressiven Polarisierung des öffentlichen Raumes einhergehen – in deren Ausnutzung sich Extremisten als überaus geschickt erwiesen haben – weitaus größer.

Dieser Artikel wurde ursprünglich auf Project Syndicate veröffentlicht.

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