Meinung
11.06.2015

Berliner Kulturpolitik: Unrealistisch, überambitioniert, dilettantisch?

Helmut Anheier erklärt, warum sich Berlin immer wieder in Kulturvorhaben mit unklarem Ausgang stürzt.

Das Berliner Schloss feiert Richtfest. Doch die Bestimmung des gigantischen Projekts „Humboldtforum“ ist nach wie vor verschwommen. Warum stürzt sich Berlin immer wieder in Kulturvorhaben mit unklarem Ausgang? Eine Theorie Albert O. Hirschmans könnte der Schlüssel sein.

Der in Berlin geborene und im Dezember 2012 verstorbene Ökonom Albert O. Hirschman hätte an der Berliner Kulturpolitik seine wahre Freude gehabt.  Von der Humboldt-Box stehend hätte er fasziniert zuerst auf den Rohbau des Forums geblickt, dann auf den nicht enden wollenden Umbau der Staatsoper und schließlich auf die schon fast 25-Jahre andauernden Arbeiten an der Museumsinsel.  Weniger interessiert hätten ihn die Auseinandersetzungen gealterter Theaterintendanten mit einem jugendlichen Staatssekretär für Kultur oder die Nachfolgediskussionen an Volksbühne und Philharmonie.  Viel spannender für ihn hingegen die Pläne für ein Museum der Moderne und hochspannend gar die Art und Weise der Finanzierung eben solcher Vorhaben einer Stadt, deren Kulturbudget zu über 90% langfristig festgelegt ist und somit eigentlich kaum Handlungsspielraum für Neues und Großes bietet.

Wie kann eine klamme Stadt mit einem noch klammeren Etat gleichzeitig mehrere große Kulturprojekte umsetzen?  Es ist ja nicht so, dass es keinem auffällt, wie viel in Berlin in große Kulturprojekte investiert wird, und das Humboldtforum, dessen glatte Betonmauern nicht mehr zu übersehen sind, möge hier als Beispiel genügen.  Aber dass trotzdem gebaut und gemacht wird, obwohl es eben weder zu Ende gedacht noch finanziert ist, und dass es irgendwie auch nach vorne geht, wenn auch holprig, mit Tücken und manchmal scheinbar auf Krücken – das ist das Außergewöhnliche, das fast Kuriose, welches Hirschmans Aufmerksamkeit gefunden hätte.  Wie ist es möglich, hätte er sich gefragt, dass sich die eigentlich klugen und meist umsichtig agierenden Köpfe der Berliner Kulturpolitik wiederholt halbfertige Vorhaben kühn angehen und letztlich nicht wissen, wie sie erfolgreich zu Ende zu führen sind?

Das Humboldtforum hat mit anderen großen Kulturprojekten in Berlin eines gemeinsam:  Es gibt eine optimistische Planung, eine befürwortende Entscheidungskonstellation der Eliten, die eine Unterfinanzierung politisch akzeptiert, und letztlich weder eine demokratische Legitimierung der hohen Risiken noch eine nachvollziehbare Begründung hat, warum nun dieses Vorhaben und kein anderes.  Warum wird das Humboldtforum verwirklicht, obwohl selbst gegen Ende der Rohbauphase die Nutzung, ja der Sinn des doch recht teuren Komplexes nicht gefunden ist?  Warum hat das Forum, hämisch als größte Mehrzweckhalle der Republik beschrieben, immer noch mehr Quadratmetern als Ideen, wie FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube es formuliert hat?

Das Prinzip der verbergenden Hand

Nun, das Ganze unterliegt einem unausgesprochenen Prinzip, würde Hirschman antworten: dem Prinzip der verbergenden Hand (hiding hand principle).  Hirschman beobachtete wiederholt, wie Projekte begonnen wurden, die bei genauerem Hinsehen eigentlich als unrealistisch, überambitioniert und dilettantisch erschienen. Hätten die Projektplaner im Voraus jedoch von den wirklichen Schwierigkeiten und Scherereien gewusst, so Hirschman, wäre das Projekt weder angegangen noch verwirklicht worden.  Aber warum haben sie es getan?  Warum gehen insbesondere Unternehmer, Politiker oder Stadtplaner Vorhaben an, die nahezu unmöglich erscheinen, große Risiken und unvorhersehbare Kosten bergen, und rational betrachtet letztlich scheitern müssten?  Hier kommt das Prinzip der verbergenden Hand ins Spiel.

Hirschman schreibt:

„Kreativität überrascht uns immer, deswegen können wir uns nie auf sie verlassen, und wir trauen uns nicht an sie zu glauben, bis sie passiert.  In anderen Worten, wir würden nie bewusst Aufgaben übernehmen, deren Erfolg von einzutretender Kreativität abhängt.  Aus diesem Grund können wir unsere Kreativität nur dann in vollem Umfang ins Spiel bringen, wenn wir Aufgaben falsch einschätzen, indem wir sie als uns selbst als routinemäßiger, einfacher, freier von notwendiger Kreativität präsentieren, als sie sich herausstellen werden.“

Laut Hirschman unterschätzen wir so nicht nur zwingend unsere Kreativität oder unseren Einfallsreichtum vorab, sondern sehr wahrscheinlich im gleichen Maß die Schwierigkeiten der Aufgabe selbst.  „Durch diese sich ausgleichenden Unterschätzungen“ bringen wir uns gewissermaßen selbst dazu, „Aufgaben, die wir bewältigen können, aber uns ansonsten nicht zutrauen würden, in Angriff zu nehmen.“

Dies ist der Schlüssel zum Verständnis der Berliner Kulturpolitik: Sie stößt einen Prozess in Richtung eines gewünschten Ziels an, ohne weder im Voraus zu wissen, wie das Ziel erreicht werden kann, noch wie es am Ende aussieht.  Mit anderen Worten, die Berliner Kulturpolitik ermöglicht eine Doppeltäuschung: Erstens, dass ein Großprojekt innerhalb eines glaubhaft gemachten Finanzierungsrahmens auf bekannte Art und Weise zu verwirklichen sei, und zweitens, dass selbst wenn Zweifel bestehen sollten, das Ganze im Grunde genommen überhaupt nicht so schwierig ist und durchaus erreicht werden könne, wenn alle wollen und sich anstrengen.

Die Freiheit zur Selbsttäuschung

Die weitgehende Unabhängigkeit des Berliner Kulturbudgets für Großprojekte von Wirtschaftlichkeit und Wählerwillen gibt der Berliner Kulturpolitik erhebliche Freiheiten zur Selbsttäuschung. Kein relevanter Akteur drosselt diese Ambitionen, und sollte es schiefgehen, springt am Ende irgendwie und irgendwann der Bund ein. Diese Loslösung ist der Nährboden für das hohe Selbstvertrauen und das innovative Potenzial der Kulturpolitik in dieser Stadt.  Sie nimmt sich scheinbar unmöglicher Aufgaben an, glaubt aber, dass sie machbar sind. Die verbergende Hand erleichtert es, dass Projekte gerade durch potentielles Scheitern schlussendlich verwirklicht werden.

Möglicherweise hätte Hirschmans gute Laune über die Verwirklichung seines Prinzips in Berlin nicht lange angehalten. Denn es gibt eine düstere Kehrseite – man könnte sie wohl als „die hinterhältige Hand“ bezeichnen. Sie ist im Spiel, wenn Entscheidungsträger die Wahrheit kennen, diese aber auf Kosten anderer verschleiern, um agieren zu können. Könnte es sein, so würde er fragen, dass die Berliner Kulturpolitik, wissend um die Rolle des Bundes als Bürge letzter Instanz weniger eine Sache authentischer Kreativität als ein höchst gewagtes taktisches Spiel ist?

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