Meinung
23.06.2016

Brexit: Großbritanniens Neverendum

Mark Dawson erklärt, warum die britischen Wähler vor dem Brexit-Day eher gelangweilt reagieren.

Während man auf dem Kontinent vor dem Brexit-Day zittert, reagieren die britischen Wähler eher gelangweilt. Sie wissen wohl: Die Debatte wird auch danach weitergehen.

Es war ein ungewöhnlich langer zäher Wahlkampf um das Brexit-Referendum. Das mag eines seiner seltsamsten Merkmale erklären: Während europäische Beobachter diese Volksabstimmung als eine der wichtigsten Entscheidungen betrachten, die das Vereinigte Königreich je treffen wird, haben britische Wähler weitgehend gelangweilt reagiert. Die größte Sorge der proeuropäischen Kampagne ist nicht, dass die Briten überwiegend für den Austritt aus der Europäischen Union stimmen, sondern dass nur die Älteren an die Wahlurne gehen, die “schweigende Mehrheit” der jüngeren, der EU eher zugeneigten Briten dagegen zu Hause bleiben und stattdessen die Fußballeuropameisterschaft 2016 schauen.

Der Marathonlauf ist jedoch gerade erst losgegangen. Während der britische Premierminister sagt, das Votum vom 23. Juni werde das schwierige Verhältnis Großbritanniens zu Europa “ein für allemal” klären, würde ich mich darauf nicht verlassen. Das anstehende Referendum trägt alle Zeichen der Endlosigkeit in sich: Denn die Kampagnen beider Seiten verstärken die Polarisierung noch. So wird sichergestellt, dass das Thema über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinweg auf der politischen Agenda bleiben wird.

Der Hauptgrund dafür ist das Aufeinandertreffen von ökonomischer und politischer Wirklichkeit. Zunächst zur Wirtschaft: Wie sogar Befürworter eines Brexit zugeben, ist ein Großbritannien außerhalb Europas ein Ding der Unmöglichkeit. Ein Vereinigtes Königreich, das den Großteil seines Handels mit der EU treibt, benötigt unverzichtbar ein weitreichendes Handelsabkommen mit seinen europäischen Partnern.

Wenn man sich an vergleichbaren Fällen orientieren darf, ziehen solche Abkommen erhebliche Einschränkungen für die eigene nationale Souveränität nach sich. Norwegen beispielsweise hat ungehinderten Zugang zu den einzelnen Märkten, muss aber im Gegenzug umfassend europäisches Recht akzeptieren. Wenn ein solcher Fall eintritt, ist ein Austrittsentscheid nur ein Votum für jahrelange mühsame Verhandlungen, die (bestenfalls) zu einem Großbritannien führen, das zutiefst in europäische Politikgestaltung verstrickt bleibt. Während EU-Regelungen über die Größe von Gurken und Bananen lange Zeit für europaskeptische Schauergeschichten gesorgt haben, werden genau solche Regelungen ironischerweise bleiben, und zwar unabhängig vom Wahlausgang.

Nun zur politischen Realität: Ein Großteil der politischen Klasse in Großbritannien sieht das Verhältnis ihres Landes zu Europa nicht unter dem Blickwinkel einer Kosten-Nutzen-Analyse, sondern der Identität. Mag es noch so viele Handelsstatistiken geben oder Handelsabkommen, in denen – wie im Januar vereinbart – die Bedingungen der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens neu ausgehandelt werden, nichts wird sie davon überzeugen, dass die EU etwas anderes ist als ein Angriff auf alte britische Freiheiten. Diese Gruppe wird alle Verhandlungen nach einem Brexit, so gut sie auch sein mögen, als einen Verrat am Willen des britischen Volkes betrachten.

Dieses Gefühl wird auch im Falle eines proeuropäischen Wahlausgangs anhalten. Wie groß die Mehrheit auch sein mag, diejenigen, die ihre politische Existenz mit EU-Bashing aufgebaut haben, werden sich nicht davon überzeugen lassen, dass die EU-Mitgliedschaft im Interesse des Vereinigten Königreichs sei. Stattdessen werden sie behaupten, die Briten seien betrogen worden – die “Neuverhandlungen” vom Januar seien gar keine gewesen oder die Europabefürworter hätten Großbritanniens EU-Mitgliedschaft nur dadurch aufrechterhalten, dass sie den Leuten Angst gemacht hätten. Für diese Gruppe wird das Referendum nicht das Ende, sondern der Anfang eines Guerillakampfes für den Brexit sein.

Vor diesem Dilemma steht das Vereinigte Königreich – die ökonomische Realität ist ein Großbritannien innerhalb, die politische eines außerhalb Europas. Das Ergebnis dieses historischen Paradoxes ist ein Land, das niemals sein Verhältnis zu Europa klären wird und es ganz gewiss nicht am 23. Juni tut.

Dieser Artikel erschien am 16. Juni 2016 zuerst auf ZEIT online.

Über den Autor

  • Mark Dawson, Professor für European Law and Governance