Meinung
24.05.2016

Europa verrät im Umgang mit Erdoğan seine Werte

Die EU darf nicht länger zum Krieg der Türkei gegen die Kurden schweigen, findet Dilek Kurban.

Und auch nicht zur Umwandlung des Landes in einen autokratischen Staat.

Das vertraute Bild eines Krieges: zerschossene Häuser; Verletzte verbluten wegen fehlender medizinischer Hilfe; Zivilisten werden zu Flüchtlingen im eigenen Land. Nur ist dies keine Beschreibung aus Aleppo oder einer anderen syrischen Stadt. Die Szenen spielen sich in der Türkei ab, einem Mitgliedsstaat der Nato, EU-Beitrittskandidat und strategischen Partner Deutschlands in der Flüchtlingskrise.

Die kriegerischen Auseinandersetzungen tragen sich in der kurdischen Region in der Osttürkei zu, nur ein paar Autostunden entfernt vom syrischen Flüchtlingslager Nizip, das Bundeskanzlerin Angela Merkel mit führenden EU-Vertretern am 24. April besuchte. In der Gesellschaft von Noch-Premierminister Ahmet Davutoğlu strahlte Merkel, als sie mit Geflüchteten zusammentraf – obwohl wenige Hundert Kilometer entfernt 355.000 interne Bürgerkriegsflüchtlinge (eine offizielle Zahl des türkischen Gesundheitsministeriums) ohne jede Hilfe auskommen mussten.

Menschenrechtsverletzungen in kurdischen Städten

Seit dem 16. August 2015 hat die türkische Regierung unbegrenzte ganztägige Ausgangssperren in mindestens 22 kurdischen Städten verhängt. Das Militär drang mit Panzern und schwerer Artillerie in dicht besiedelte Städte ein. Ziel waren die Barrikaden und Schützengräben der patriotisch-revolutionären Jugendbewegung (YDG-H), die mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK assoziiert wird. Mehr als 1,5 Millionen Menschen wurden ohne Zugang zu Nahrung, Wasser und Strom eingesperrt. Niemand durfte die Sperrzonen betreten. Das türkische Militär bombardiert und zerstört ganze Städte.

Die Regierung setzt alles daran, die Zahl der getöteten Zivilisten zu verschleiern. Die türkische Stiftung für Menschenrechte berichtet, dass bislang mindestens 338 Zivilisten bei den Angriffen ums Leben kamen, darunter 78 Kinder und 69 Frauen. Neben diesen schweren Menschenrechtsverletzungen führen Spezialkräfte eine psychologische Kampagne gegen die Bewohner der Sperrzonen. Versteckt hinter Masken besprühen sie Häuserwände und Geschäfte mit religiösen und nationalistischen Botschaften und spielen Militärmärsche von bewaffneten Fahrzeugen.

Türken, die gegen das Vorgehen des türkischen Militärs protestieren, werden schikaniert, zum Teil polizeilich und juristisch verfolgt. Auch kurdische Volksvertreter geraten ins Visier. 29 gewählte Bürgermeister der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) wurden aus dem Amt entfernt, 14 von ihnen unter dem Vorwurf der terroristischen Betätigung festgenommen. Anfang Mai begann das türkische Parlament über die Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten zu beraten, auf Anordnung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan.

Merkel verficht türkische Regierungspolitik

Merkel und die EU-Vertreter waren sich dieser Situation sicherlich bewusst, als sie das syrische Flüchtlingslager besuchten. Doch sie sprachen die Ereignisse im Kurdengebiet nicht an. Sie wollten den Flüchtlingsdeal mit Ankara nicht gefährden. Bei ihrem jüngsten Türkeibesuch ging Merkel noch einen Schritt weiter: Sie wurde zu einer Verfechterin der politischen Agenda der türkischen Regierung. Bei einer Rede in der Stadt Gaziantep sprach sie sich für die Schaffung von “Schutzzonen” in Syrien aus, eine Idee, die Erdoğan schon seit 2013 vorantreibt. Er behauptet, es gehe ihm allein um die Sicherheit der Flüchtlinge. In Wirklichkeit möchte er verhindern, dass die syrischen Kurden entlang der Südgrenze zur Türkei einen durchgehenden Landstrich kontrollieren.

Das UN-Flüchtlingshilfswerk und Menschenrechtsgruppen haben Erdoğans Vorschlag beharrlich zurückgewiesen. Die US-Regierung hat sich ebenfalls seit Langem gegen die Idee ausgesprochen. Das hinderte Merkel aber nicht daran, sie sich zu eigen zu machen.

Ein Kurswechsel ist überfällig

Im September 2015, nachdem die Ausgangssperren in der kurdischen Region bereits verhängt waren, setzte die Europäische Kommission die Türkei auf ihre Vorschlagsliste “sicherer Herkunftsländer”. Wenn die Türkei tatsächlich zum sicheren Herkunftsland erklärt wird, wird das Land offiziell keine Flüchtlinge mehr produzieren, auch keine Kurden – ein weiteres Ziel, das Erdoğan verfolgt. Dabei wurde 2014 fast jeder vierte Asylbewerber aus der Türkei in der EU anerkannt. Man kommt deshalb nicht umhin, zu fragen, wie die EU-Kommission auf diesen Gedanken kommt.

Stellung gegen Erdoğan beziehen

Europa und seine Staats- und Regierungschefs stehen am Scheideweg. In Zeiten wie diesen erinnert uns die europäische Geschichte daran, den Grundprinzipien von Demokratie und Menschenrechten den Vorrang zu geben vor praktischen Erwägungen und den Eigeninteressen an dem Flüchtlingsdeal. Bisher haben Merkel und ihre EU-Partner moralisch auf der falschen Seite gestanden. Für einen Kurswechsel ist es aber nicht zu spät.

Mit dem erzwungenen Rücktritt von Ministerpräsident Davutoğlu hat Erdoğan den letzten Widerstand innerhalb seiner Partei aus dem Weg geräumt. Europäische Politiker sollten nun dringend verhindern, dass Erdoğan die HDP-Abgeordneten ausschaltet, um eine Zweidrittelmehrheit im Parlament für die Einführung eines Präsidialsystems zu erreichen. Es sollte nicht länger ohne Konsequenzen bleiben, wenn er fadenscheinige Strafanzeigen gegen Akademiker, Journalisten und andere Kritiker einreicht und wenn das türkische Militär systematische Angriffe auf kurdische Städte verübt. Diese Entwicklungen in der Türkei sollten die EU-Politiker endlich dazu bewegen, Stellung gegen Erdoğan zu beziehen. Das sind sie den demokratischen Kräften in der Türkei schuldig.

Dieser Artikel erschien am 14. Mai 2016 zuerst auf ZEIT online.

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