Student and alumni views
16.12.2016

Handelsblatt “Menschen des Jahres 2016”

Illustration: Roland Brückner | bitteschoen.tv

Die Laudationes der Hertie School-Studentinnen Lisa Gow, Johanna Buchholz und Tanya Shoshan.

Alljährlich tragen die Studierenden der Hertie School per „student vote“ zur Wahl „Menschen des Jahres“ der Wirtschaftszeitung bei. Person des Jahres 2016: Canan Coşkun, Journalistin bei der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet, der aufgrund ihrer mutigen Recherche zu Korruptionsvorwürfen gegenüber türkischen Justizbeamten nun 23 Jahre Haft drohen.

Die Governance Post-Redakteurinnen Lisa Gow, Johanna Buchholz und Tanya Shoshan schrieben für das Handelsblatt Laudationes für ihre drei "Menschen des Jahres 2016" - neben Canan Coskun wurden Yusra Mardini and Jan Albrecht von den Studenten auf den zweiten und dritten Platz gewählt. Mardini ist eine 18-jährigen syrische Geflüchtete und Olympia-Schwimmerin, die im Mittelmeer 18 Leben rettete und in Rio 2016 zu den Olympischen Spielen antritt. Albrecht, 33 Jahre alt, ist einer der jüngsten Abgeordneten im Europaparlament und Berichterstatter für die EU-Datenschutz-Grundverordnung und das EU-US-Datenschutzabkommen.

Canan Coşkun – Handelsblatt Person des Jahres 2016

Respekt ist ein sehr kniffliger Begriff. Steht er mir zu oder muss ich ihn mir verdienen? Und was beinhaltet er – die Gebote der Höflichkeit oder mehr als das? Für manche türkische Beamte und Richter ist die Antwort klar: Sie verdienen Respekt qua Amt, und zwar nicht zu knapp. Respekt heißt für sie, dass ihre Entscheidungen, ihr Lebenswandel, letztlich sie selbst über den Dingen stehen. Ihr Verhalten öffentlich zu hinterfragen, gar zu kritisieren, verbietet sich von selbst – jedenfalls „von unten“. Und: Sie werden von Artikel 125 des türkischen Strafgesetzes unterstützt, demzufolge ein sehr dehnbarer Tatbestand der Beamtenbeleidigung mit heftigen Strafen belegt ist. Respekt ist für sie eine Einbahnstraße.

Für Canan Coşkun, eine 29-jährige Journalistin und Gerichtsreporterin der regierungskritischen türkischen Tageszeitung Cumhuriyet, ist die Sache aber nicht so einfach. Wenn sie unethisch handeln, dürfen hohe Justizbeamte, der Sohn von Präsident Erdoğan und andere Mitglieder der türkischen Machtelite nicht bloß aufgrund ihrer hochrangigen Positionen vor Kritik geschützt werden, findet sie.

Coşkun ist in Istanbul aufgewachsen. Bei Cumhuriyet lernte sie Journalismus „on the job“, nebenher studiert sie Fotografie an der Anadolu Universität in Eskişehir. Sie schreibt seit Jahren über Korruption im Justizsystem. Dabei legt sie eine „Respektlosigkeit“ an den Tag, die für viele Amtsträger in gehobenen Positionen offenbar unerträglich ist.

Im Jahr 2015 ist ihr das zum Verhängnis geworden: Sie berichtete über Richter und Staatsanwälte, die Luxusimmobilien von der staatlichen türkischen Wohnungsbaubehörde zu stark vergünstigen Preisen erworben hatten. Die Empörung war groß und die Anklage gegen Coşkun ließ nicht lange auf sich warten. Sie habe die Würde und das Ansehen der Beamten beschädigt, so die Anklage. Das Gerichtsverfahren gegen Canan Coşkun läuft seit einem Jahr. Jetzt wartet sie auf ein Gerichtsurteil, das am 26. Januar soll das Urteil verkündet werden. Ihr drohen 23 Jahre und vier Monate Haft. Doch Coşkun  ist angesichts dessen nicht verstummt. Das aktuelle politische Geschehen in der Türkei kommentiert sie weiterhin via Twitter.

Der Fall Canan Coşkun ist einer von sehr, sehr vielen: Seit dem gescheiterten Putsch im Juli dieses Jahres geht die Regierung Erdoğan unter den Schirm des Ausnahmezustandes massiv gegen die Medien vor: Etliche Zeitungen wurden geschlossen. Mehr als 3000 Journalisen und Journalistinnen mussten ihre Arbeit einstellen. Viele sind aus der Türkei geflohen. Im Oktober wurden der Redaktionschef und viele weitere Mitarbeiter der Cumhuriyet verhaftet. Die Begründungen dafür sind so absurd wie im Fall Canan Coşkuns. Der Kolumnist Kadri Gürsel hatte sich über Erdoğans Abneigung gegen Zigaretten lustig gemacht. Nun läuft gegen ihn ein Gerichtsverfahren wegen Terrorismus. Schritt für Schritt wird das Publikum der Möglichkeit beraubt, sich aus unabhängigen Quellen über das Handeln der Regierung zu informieren. Aber viele Journalisten machen – irgendwie – weiter und nehmen dabei erhebliche Risiken auf sich.

Doch nicht nur Journalisten sind betroffen. Berufsverbote und Verhaftungen betreffen Armeeangehörige, Polizisten, Beamte, Lehrer, Wissenschaftler, Oppositionspolitiker und am Ende jeden, bei dem eine regierungskritische Haltung vermutet wird. Selahattin Demirtaş, Menschenrechtsanwalt und Chef der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP, war noch im April 2016 an der Hertie School in Berlin, um mit uns Studenten zu diskutieren. Seit November sitzen er und weitere HDP-Abgeordnete in Untersuchungshaft. Gegen Kritik, ja schon gegen „Respektlosigkeit“, gibt es in der heutigen Türkei, so scheint es, ein einfaches Mittel: Wegsperren.

Die Türkei ist das Europarats-Mitglied, das am häufigsten vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof für schuldig befunden wird. Darunter hunderte Male wegen Verstößen gegen die Meinungsfreiheit. Aber die Urteile stoßen bei Parlament und Regierung, bei Behörden und selbst bei Teilen der Zivilgesellschaft auf Unverständnis und Widerstand. Der Rechtsstaat ist in der Türkei auf dem Rückzug. Ein Beitritt zur EU noch weiter entfernt als je zuvor.

Erdoğans AKP liebäugelt inzwischen mit der Wiedereinführung der Todesstrafe und betrachtet demokratische Grundwerte nicht mehr als unverhandelbar – sondern im Gegenteil als Verhandlungsmasse gegenüber der EU (insbesondere gegenüber dem EU-Parlament). Natürlich entwickelt eine solche Drohkulisse große Macht. Wenn selbst ausländische Journalisten, wie jüngst Hatice Kamer, mit Verhaftung rechnen müssen, wie können sich dann türkische Staatsbürger auf ihr verfassungsmäßiges Recht auf freie Meinungsäußerung verlassen? Sie können es nicht.

Es braucht also viel Mut, um in der Türkei, aber nicht nur dort, ein kritischer Kopf zu sein. Wir an der Hertie School finden in Canan Coşkun mit ihrem unerschütterlichen Mut ein starkes Vorbild. Sie steht für alle, die hohe persönliche Risiken eingehen, um weiterhin gegen Missstände die Stimme zu erheben. Canan Coşkun ist unsere Person des Jahres 2016. Sie und die Entwicklung in ihrem Heimatland erinnern uns daran, unsere Freiheiten nie als gegeben hinzunehmen. Angesichts von Brexit, Trump-Sieg und vielen Konflikten weltweit braucht nicht nur die Türkei, sondern auch Europa, die USA und alle anderen Länder Menschen wie Canan Coşkun. Unseren Respekt hat sie deshalb sicher. Ganz ohne Amt.

Yusra Mardini

Was tut man, wenn eine Welle an furchtbaren Ereignissen über das Leben hereinbricht? Entweder man schwimmt, oder man geht unter. Yusra Mardini hat sich entschieden zu schwimmen. Und das gleich zweimal.

Aufgewachsen in Damaskus, zwang der Bürgerkrieg die damals 18-Jährige dazu, im Sommer 2015 gemeinsam mit ihrer Schwester zu fliehen. Ihre Route führte sie in die Türkei, von wo aus ein Schlauchboot sie über die Ägäis nach Europa bringen sollte. Als sich die Tragik sinkender Flüchtlingsboote in ihrem Fall zu wiederholen drohte, entschied sich Yusra, das zu tun, was sie besonders gut kann. Sie schwamm. Gemeinsam mit ihrer Schwester und zwei weiteren Geflüchteten zog sie das Boot über drei Stunden bis an die Küste von Lesbos und rette so nicht nur ihr eigenes, sondern das Leben 18 weiterer Menschen.

Im 2016 schwamm Yusra erneut, diesmal jedoch nicht um ihr Leben, sondern als Mitglied des Refugee Olympic Athletes Team in Rio. Sie bewies, wie stark ihr Wille ist. Schwimmen und Kämpfen statt unterzugehen – eine Einstellung, die sie überleben ließ und die wir bewundern.

Jan Philipp Albrecht

Mit seinem politischen Engagement für Bürgerrechte im digitalen Zeitalter hat sich Jan Philipp Albrecht bei vielen jungen Menschen einen Namen gemacht. Als jüngster deutscher Europaabgeordneter und innen- und justizpolitischer Sprecher der Grünen hat er sich als Berichterstatter bereits mehrmals erfolgreich für hohe Datenschutzstandards eingesetzt. Dass Albrecht versucht, mit Bürgern und Bürgerinnen in einen gesellschaftlichen Dialog zu treten, macht ihn für viele sympathisch und glaubwürdig. Mit einigen Mitstreitern entwarf er eine „Charta der digitalen Grundrechte“ mit der öffentlichen Aufforderung, sich online an deren Gestaltung zu beteiligen. Im Dokumentarfilm „Democracy – im Rausch der Daten“ gewährt Albrecht Einblick in sein Arbeitsfeld, die Herausforderung, Grundrechte auch im digitalen Zeitalter zu wahren. Trotz seiner beeindruckenden Karriere erscheint Albrecht nicht abgehoben und steht glaubwürdig hinter seiner Botschaft: „Datensicherheit ist ein Grundrecht. Wollt ihr meine Daten, dann fragt mich, ob ich damit einverstanden bin.“

Der Beitrag ist im Handelsblatt vom 16.12.2016 erschienen sowie im Online-Studentenmagazin der Hertie School, The Governance Post