Meinung
02.08.2018

In einer globalisierten Welt hat Nichthandeln unmittelbare Folgen

Mit halbherzigem Engagement wird die Bundesregierung aktuelle Konflikte nicht bewältigen können, schreibt Wolfgang Ischinger. Zu einem guten Krisenengagement gehören sowohl zivile als auch militärische Mittel. Daher sollte sie darauf abzielen, ihr Budget für Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik auf drei Prozent des BIP zu erhöhen und den Bundessicherheitsrat zu einem umfassenden Koordinierungsgremium für Außen- und Sicherheitspolitik auszubauen.

21. November 1995 in Dayton, Ohio: Ich hatte zu diesem Zeitpunkt drei Wochen in zermürbenden Verhandlungen verbracht, um als Unterhändler zusammen mit meinen internationalen Kolleginnen und Kollegen die Konfliktparteien des Bosnienkriegs endlich zum Abschluss eines Friedensvertrags zu bewegen. Nun war es endlich vollbracht und nach dreieinhalb Jahren brutalstem Krieg schwiegen die Waffen endgültig – zumindest in Bosnien-Herzegowina. Ein Erfolg der Diplomatie? Ohne Zweifel!

Aber möglich geworden waren die Verhandlungen erst durch den Einsatz militärischen Drucks, der die Kriegsparteien, vor allem den serbischen Präsidenten Slobodan Milošević, an den Tisch gezwungen hatte. Keine UN-Schutzzone, keine diplomatischen Verhandlungen, keine Wirtschaftssanktionen hatten allein vermocht, der Gewalt Einhalt zu gebieten. Erst das Zusammenspiel aller – politischen wie militärischen – Instrumente hat den gewaltsamen Konflikt beenden können. Der Bosnienkrieg war für mich eine prägende Erfahrung und hat nachhaltig beeinflusst, was ich unter einem guten Krisenengagement verstehe.

Eingreifen: Zivil, militärisch – aber vor allem mit Plan

Deutschland hat es sich aufgrund seiner Geschichte auf die Fahne geschrieben, vor allem mit zivilen Mitteln für Frieden einzutreten und militärische Gewalt nur im multilateralen Rahmen als Ultima Ratio einzusetzen. Das ist nicht nur historisch angemessen, sondern auch fachlich richtig. Denn selbst die bestausgebildeten Soldaten können allein keinen dauerhaften, positiven Frieden bringen. Mehr noch: Mediation, Sanktionen und andere zivile Instrumente können sogar dazu beitragen, eine gewaltsame Eskalation von Konflikten von vorneherein zu verhindern.

Tatsache ist aber auch: Die meisten Kriege entstehen nicht aus Missverständnissen, die es aufzulösen gilt, sondern aus handfesten, einander widersprechenden Interessen. Wer Frieden schaffen will, muss auch die Fähigkeit besitzen, kriegerischer Interessendurchsetzung etwas entgegenzusetzen. Zivile Mittel reichen dafür nicht immer aus. Im Gegenteil: Militärische Gewalt von Anfang an auszuschließen, kann einen Konflikt noch verschärfen. Akteure können sich ermutigt fühlen, Gewalt auszuüben, wenn sie glauben, ihnen drohen keine Konsequenzen. Das schreckliche Ergebnis mussten wir leider in Srebrenica miterleben, als 1995 mehr als 8.000 Bosniaken ermordet wurden. Manchmal braucht es Waffen, um das Schlimmste zu verhindern und Verhandlungsdruck zu erzeugen.

Wichtiger aber noch: Die Anwendung aller Instrumente – ob zivil oder militärisch – muss in eine politische Strategie zur Konfliktbewältigung eingebettet sein. Denn Frieden ist immer das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses und damit im tiefsten Sinne politisch. Jegliche Intervention von außen greift in das Machtgefüge vor Ort und damit in diesen Aushandlungsprozess ein. Daher sollte die Bundesregierung alle Maßnahmen darauf prüfen, ob sie ihre politische Gesamtstrategie unterstützen.

Weißbuch und Leitlinien geben den Rahmen vor

Konzeptionell ist Deutschland mittlerweile gut aufgestellt, um mehr Verantwortung für Frieden und Sicherheit zu übernehmen: Die Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ bilden neben dem Weißbuch von 2016 die Grundlage für das deutsche Krisenengagement. Zivile und militärische Ansätze werden dort gemeinsam betrachtet und politischen Zielen untergeordnet. Der Einsatz „völkerrechtlich zulässiger militärischer Gewalt“ wird richtigerweise als Ultima Ratio, aber eben doch auch als Teil des Instrumentariums benannt, dessen Einsatz es nicht von vornherein auszuschließen gilt. Zudem stellen die Leitlinien klar, dass Lösungen für Gewaltkonflikte eben nicht einfach zu finden sind und wir vielfach vor Handlungsdilemmata stehen, die sich nur schwer auflösen lassen. Denn in Krisen und Konflikten hat man bisweilen nur die Wahl zwischen schlechten Handlungsoptionen: schlecht, wirklich schlecht und furchtbar schlecht.

In der Umsetzung dieser Einsichten gibt es aber bislang noch viele Baustellen: Die deutsche Bundeswehr ist heute nur begrenzt einsatzfähig und kann den Gebrauch militärischer Macht deshalb wenig glaubhaft androhen; im Auswärtigen Amt fehlen ausreichend Diplomaten, die politische Lösungen aushandeln könnten; und Ressortstreitigkeiten erschweren die Erarbeitung gemeinsamer Ansätze für konkrete Krisen. Das soll nicht die Fortschritte kleinreden, die es in den vergangenen Jahren sehr wohl gegeben hat: So ist Deutschland zu einem der weltweit größten humanitären Geber geworden und der deutsche Verteidigungshaushalt soll bis 2024 zumindest auf 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigen – aber angesichts der riesigen Herausforderungen reicht das einfach nicht aus.

Wegducken ist keine Lösung

Nicht nur fehlt uns oft schlichtweg die Ausstattung zum Einschreiten. Schlimmer aber noch: Uns fehlt der Wille. Zu oft wollen wir das Eingreifen lieber anderen überlassen. Das funktioniert aber nicht mehr in einer Welt, aus der die USA sich – nicht erst seit Donald Trump – als globale Ordnungsmacht immer weiter zurückziehen. Im Bosnienkrieg waren die USA noch die treibende Kraft für das Handeln der internationalen Gemeinschaft – auf diplomatischer wie auf militärischer Seite. Dagegen wurde im Fall von Syrien in eklatanter Weise deutlich, was passiert, wenn sich die USA zurückhalten und die Europäer die Lücke nicht füllen. Hunderttausende Tote, dutzende Giftgasangriffe und Millionen geflüchteter Menschen später stehen wir vor den Trümmern eines Landes und internationaler Normen. Dass wir uns nicht für den robusten Schutz der syrischen Zivilbevölkerung eingesetzt haben, als dies vielleicht noch möglich war, bleibt ein Schandfleck deutscher und europäischer Außenpolitik.

Es ist allerdings nicht nur moralisch falsch, sich aus der globalen Krisenbewältigung herauszuhalten – es ist auch realpolitisch fatal. Der mittlerweile verstorbene, damalige Verteidigungsminister Peter Struck musste 2002 einige Kritik einstreichen als er sagte „die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt." Aber er hatte Recht. In einer globalisierten Welt hat auch Nichthandeln unmittelbare Folgen für Deutschland, wie sich nicht nur in der Flüchtlingskrise von 2015 gezeigt hat. Ich befürchte, das haben wir immer noch nicht in letzter Konsequenz verstanden.

3% für Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik – EU-weit

Wir befinden uns heute in einer grundlegend gewandelten Welt. Die derzeitige Reihung von Krisen ist keine Phase, die in wenigen Jahren abgeschlossen sein wird. Mit halbherzigem Engagement werden wir Deutschen die aktuellen Konflikte nicht bewältigen können und den zukünftigen erst recht nicht gewachsen sein. Was also müssen wir tun?

Es wird gern gesagt, man könne der deutschen Bevölkerung nicht vermitteln, dass mehr Geld für Panzer ausgegeben werden muss, während es gleichzeitig an deutschen Kitaplätzen mangelt. In der Tat: Die Bürger sollten nicht den Eindruck haben, zwischen innerem Wohlstand und äußerer Sicherheit wählen zu müssen. Wenn das Budget nicht für beides reicht, ist es ist schlicht an der Zeit, mehr Geld auszugeben. Von der schwarzen Null werden sich zukünftige Generationen nichts kaufen können, wenn die wichtigste Grundlage unseres Wohlstands erodiert: ein friedliches und prosperierendes Europa. Das Ziel der Bundesregierung sollte sein: Drei Prozent des BIP für Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik – und zwar nicht nur in Deutschland, sondern möglichst EU-weit.

Den Bundessicherheitsrat ausbauen

Ein erhöhter Etat für Frieden und Sicherheit muss von kohärentem politischem Handeln begleitet werden. Dafür gibt es eigentlich schon seit Jahrzehnten einen Vorschlag: den bereits bestehenden Bundessicherheitsrat zu einem umfassenden Koordinierungsgremium für außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen auszubauen. Dessen Sekretariat würde der Leiter der Abteilung 2 für Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik des Bundeskanzleramts übernehmen, unterstützt durch die relevanten Ressorts.

Gemeinsam würden im Bundessicherheitsrat dann Vorschläge dazu erarbeitet werden, wie das deutsche Handeln in konkreten Krisen auszurichten ist. Das Kabinett würde die Vorschläge verabschieden. Statt ministeriellen Alleingängen ohne Anbindung an eine politische Gesamtstrategie gäbe es endlich feste gemeinsame Ziele, die anschließend in den nachgeordneten Gremien umgesetzt werden würden.

Entscheidungsfindung in der GSVP mit qualifizierter Mehrheit

Was für Deutschland im Kleinen gilt, gilt auch im Großen für Europa: Es geht nur gemeinsam. Neben dem Ausbau der militärischen und der zivilen Fähigkeiten in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) muss die EU daher vor allem eines schaffen: außenpolitisch schnell handlungsfähig zu sein. Dafür sollten Entscheidungen in der GSVP mit einer qualifizierten Mehrheit statt wie bislang im Konsens getroffen werden. Bis dies erreicht ist, könnte Deutschland damit den Anfang machen, dass es unilateral auf sein Vetorecht verzichtet, das alle EU-Staaten bei einstimmig zu fällenden Entscheidungen de facto haben.

Wir brauchen mehr öffentliche Debatten

Meine letzte Empfehlung – oder vielmehr ein Wunsch – richtet sich weniger an meine alten Kolleginnen und Kollegen in der Bundesregierung, als an meine neuen, nichtstaatlichen Mitstreiter aus dem Friedens- und dem Sicherheitsbereich: Als Hauptgrund, warum sich Deutschland nicht substantiell in einer bestimmten Krise engagiert, wird häufig – und zu Recht – der fehlende politische Wille identifiziert. Um diesen zu generieren, braucht es bekanntermaßen öffentliche Aufmerksamkeit. Für diese sollten wir uns einsetzen – und zwar gemeinsam! Lassen Sie uns als Experten und Expertinnen zusammen dafür eintreten, dass internationale Krisen auf die öffentliche Agenda kommen und es eine wohlinformierte Diskussion darüber gibt, ob und wie Deutschland sich für deren Bewältigung engagieren sollte.

Seit dem Abschluss des Dayton-Abkommens sind nun über 20 Jahre vergangen. Ich schaue durchaus kritisch auf das, was wir seither erreicht haben – und was nicht. In Bosnien-Herzegowina schweigen die Waffen weiterhin, aber die politische Situation ist verfahren. Und das ist – nicht nur, aber auch – ein Ergebnis von Dayton. Ich glaube weiterhin, dass diese Vereinbarung das damals maximal Mögliche war. Es ging darum, einen Krieg zu beenden, der bis dahin rund 100.000 Menschenleben gefordert hatte. Das ist uns gelungen, aber es war bei Weitem nicht genug. Weder konnten wir die spätere Eskalation im Konflikt um den Kosovo verhindern, noch haben wir den Menschen in Bosnien-Herzegowina ausreichend politische Unterstützung zukommen lassen, um eine gerechte Nachkriegsordnung aufzubauen. Dayton hätte der Anfang eines politischen Prozesses sein müssen, nicht sein Ende. Das sollte uns eine Lehre für die Zukunft sein. 

Dieser Artikel wurde zuerst im PeaceLab blog des GPPi sowie von der Münchener Sicherheitskonferenz veröffentlicht.

 

More about Wolfgang Ischinger

  • Wolfgang Ischinger, Professor Emeritus of Security Policy and Diplomatic Practice | Founding Director, Centre for International Security