Meinung
03.01.2018

Kinderarmut bekämpfen. Und zwar so!

Die Ungleichheit in Deutschland wächst - und am stärksten betroffen sind die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft. Eine neue Bundesregierung muss der Kinderarmut entschlossen entgegentreten.

Ein Gastbeitrag von Klaus Hurrelmann

In deutschen Kinderzimmern geht es sehr ungerecht zu. Deutschland ist eine Vier-Fünftel-Gesellschaft, in der jedes fünfte Kind aus einem finanziell armen Haushalt stammt, Tendenz steigend. Im Koalitionsvertrag der schwarz-roten Bundesregierung aus dem Jahr 2013 stand kein Wort über Kinderarmut. Nachdem Politiker im Wahlkampf viel über Gerechtigkeit sprachen und Studien laufend steigende Ungerechtigkeit belegen, kann sich die nächste Regierung solche Nachlässigkeit nicht leisten.

Die ausgezahlten Beträge für die Grundsicherung für Arbeitssuchende nach Sozialgesetzbuch II, auch Hartz IV genannt, steigen ständig. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit beträgt die Zahl der Kinder, die in sogenannten Hartz-IV-Haushalten leben, knapp zwei Millionen - fast 15 Prozent aller unter 18-Jährigen. Die Eltern erhalten pro Kind bis zu 311 Euro im Monat. Trotz Transferleistungen ist es aber häufig der Fall, dass sie in relativer Armut leben.

In Deutschland leben 2,8 Millionen unter 18-Jährige in relativer Armut, also in einem Haushalt mit einem Einkommen von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte. Das sind mehr als 20 Prozent aller Kinder. In den Haushalten von Alleinerziehenden - also Ein-Eltern-Familien - liegt der Anteil bei 45 Prozent. In den vergangenen Jahren sind diese Quoten stets gestiegen, wie selbst der offizielle Familienreport der Bundesregierung zeigt. Ein Fünftel aller Familien sind Ein-Eltern-Familien, fast alle von Frauen geführt. Die Armut von Kindern ist Familienarmut, aber eben oft auch Mütterarmut.

Die World-Vision-Kinderstudien und die Shell-Jugendstudien zeigen: Den meisten Kindern geht es gut - aber jedes fünfte wächst in wirtschaftlich unbefriedigenden Umständen auf. Unsere Vier-Fünftel-Gesellschaft verdammt diese jungen Menschen zu Einschränkungen bei Konsum und Gesundheit, zu Entwicklungsverzögerungen, zu sozialen und psychischen Störungen. Fehlende Impulse zu Hause führen dazu, dass Armut oft zu Bildungsarmut wird.

Dänemark, die Niederlande und andere europäische Länder, die eine geringere Kinderarmut haben, zeigen, dass eine umfassende Strategie mit abgestimmten Schritten notwendig ist. Die Chancen für einen Umbau der verwobenen deutschen Sozial-, Wohlfahrt- und Familienpolitik ist einmalig gut: 45 Millionen Menschen haben Arbeit, so viele wie noch nie; die Arbeitslosigkeit ist auf historisch niedrigem Niveau; die öffentlichen Kassen gut gefüllt.

Leider kreist alle Unterstützung für Kinder in Deutschland noch um die Familie. Doch Eltern dürfen nicht länger allein verantwortlich für ihre Kinder gemacht werden.

Der Abbau von Kinderarmut ist eine gemeinschaftliche Aufgabe, bei der es um sechs Schritte geht. Jeder einzelne Schritt ist wichtig, aber er kann seine Wirkung nur entfalten, wenn er mit den anderen verbunden wird. Denn der Abbau von Armut bei Kindern ist eine Querschnittsaufgabe, die alle politischen Bereicheeinbezieht. Natürlich geht es um Geld, aber ebenso um kulturelles Umdenken, um den Abbau von falschen Konventionen.

Kinderarmut ist mit der gesamten Architektur der Sozial- und Wohlfahrtpolitik und hier vor allem den Traditionen der Familienpolitik verwoben. Diese Architektur muss in Deutschland dringend neu justiert werden.

Das sind die sechs Schritte aus der Kinderarmut, die in einen neuen Koalitionsvertrag gehören:

Schritt 1: Eine bedingungslose Kindergrundsicherung schaffen

Erstens sollte die neue Bundesregierung eine finanzielle Kindergrundsicherung schaffen. Statt blumig über ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle sollte ganz konkret über eine bedingungslose Grundsicherung für die jüngsten Gesellschaftsmitglieder debattiert werden. Familien mit Kindern sind materiell erheblich schlechter gestellt als Paare ohne Kinder. Erhöhungen von Kindergeld und Kinderfreibetrag binden viel Steuergeld und sind nicht zielgenau. Gezielte Transferleistungen könnten Kindern in armutsgefährdeten Haushalten besser helfen. Die amtierende Familienministerin Katarina Barley hat vorgeschlagen, Kindergeld, Kinderzuschlag, Sozialgeld und Steuerfreibeträge zu bündeln. Das wäre der richtige erste Schritt.

Schritt 2: Den Arbeitsmarkt für Eltern umgestalten

Eine für Familien sensible Arbeitspolitik ist erforderlich. Fast alle Eltern wünschen sich heute eine Erwerbstätigkeit und die reibungslose Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Sie fühlen sich aber oft mit der Anforderung allein gelassen, ein Familienleben zu organisieren, bei dem sie sowohl ihren Kindern als auch ihrem Arbeitgeber gerecht werden. Politik und Wirtschaft sollten Angebote für eine flexiblere Arbeitsgestaltung machen.

Schritt 3: Die pädagogische Kompetenz der Eltern fördern

Eltern stehen unter Druck: Sie sollen zu ihren Kindern eine gute Beziehung haben, ihnen Chancen bieten, gleichzeitig aber berufliche Herausforderungen meistern. Es gibt bereits Kurse für Eltern, man muss sie aber aktiv suchen und meist auch dafür bezahlen. Das ist der falsche Weg, es sollte genau umgekehrt sein: In jeder Kita und Schule wird eine in den Alltagsbetrieb integrierte "gebundene" Form der Elternbildung eingerichtet. Wer dort an Kursen teilnimmt, sollte finanzielle Vergünstigungen wie etwa Freikarten für Schwimmbäder erhalten.

Schritt 4: Die soziale Infrastruktur für Familien mit Kindern verbessern

Öffentliche Einrichtungen der sogenannten Daseinsvorsorge sind für arme Menschen ganz besonders wichtig. Nachdem der Ausbau der Vorschulangebote gut vorangekommen ist, geht es jetzt um die Sicherung der Qualität der Betreuung der Kinder. Und um die Kosten: Es ist nicht nachvollziehbar, warum Schulen und Hochschulen in Deutschland kostenfrei sind, aber der vorschulische Bereich erheblich von Eltern finanziert wird. Alle Bundesländer sollten dem Beispiel von Rheinland-Pfalz folgen und die vorschulische Erziehung kostenfrei gestalten. Einkommensschwache Eltern würden ihre Kinder dann eher in die Kita schicken.

Schritt 5: Das Bildungssystem auf gezielte Förderung umstellen

Schulleistungen in Deutschland sind sehr stark an die familiäre Herkunft gebunden. Kinder aus armen Familien erhalten immer noch nicht die frühe Förderung, die sie dringend brauchen, von der Kindertagesstätte über die gesamte Schulzeit hinweg. Die Ganztagsschulen, die dieses Ziel erreichen, sind sehr teuer. Viele Länder stehen hier immer noch auf der Bremse. Die Aufhebung des Kooperationsverbots im Schulbereich würde Bund und Ländern neue Impulse geben.

Schritt 6: Kinderrechte ins Grundgesetz

Die rechtliche Stellung von Kindern sollte gestärkt werden. Kinderrechte sind im Grundgesetz nicht verankert. In Reaktion auf den Nationalsozialismus wurden nach dem Zweiten Weltkrieg die Weichen in Richtung Elternmonopol gestellt. Nehmen Eltern ihre Verantwortung wahr, geht es ihren Kindern gut; machen Eltern dies nicht, geht es den Kindern schlecht. Die Festschreibung von Kinderrechten im Grundgesetz würde die Verantwortung der gesamten Gesellschaft für ihre Kinder unterstreichen.

Dieser Artikel erschien am 03. Januar 2018 auf SPIEGEL Online.