Meinung
15.07.2016

Schottland als Chance für Europa nach dem Brexit

Britischer Regierungswechsel: Eine Fortsetzung der Brexit-Erschütterungen, findet Mark Dawson.

Mit dem rasanten Aufstieg Theresa Mays von der kompetenten, aber eher unscheinbaren Ministerin zur unangefochtenen Vorsitzenden der Konservativen Partei und Regierungschefin des Vereinigten Königreichs setzen sich die Brexit-Erschütterungen fort.

Ihr Einzug in die Downing Street bietet uns jedoch auch die Möglichkeit, uns ein anderes Großbritannien vorzustellen. Was wäre, wenn Mays Großbritannien ein anderes Land wäre, ein Land mit einer progressiven Regierung, in dem alle Parlamentsmitglieder den Verbleib in der EU befürworteten? Ein Land, das sich auf 100 Prozent erneuerbare Energien verpflichtet, das gar bereit ist, Tausende von Flüchtlingen aufzunehmen und zu beschäftigen? Das Referendum in diesem Großbritannien hätte einen eindeutigen Ausgang gehabt: 62 Prozent der Wähler und sämtliche Wahlbezirke hätten für einen Verbleib in der EU gestimmt. Wenn es nur wirklich so wäre!

Wahr ist all das tatsächlich, allerdings nur für einen Teil Großbritanniens: Schottland. Theresa May hat ihre Amtszeit mit dem Versprechen begonnen, dass die Entscheidung für den Brexit auch wirklich zum Brexit führen wird. Dies wird sehr wahrscheinlich einen Trend verstärken, der seit dem gescheiterten Unabhängigkeitsreferendum 2014 zu beobachten ist: Schottland und England driften immer weiter auseinander, wobei die Schotten bei den wichtigsten Zukunftsfragen immer wieder überstimmt werden. Zwei Jahre nach einem Referendum, in dem führende britische wie auch EU-Politiker den Schotten damit gedroht haben, dass der einzige Weg, die EU-Mitgliedschaft zu bewahren, ein Votum gegen die Unabhängigkeit sei, befinden sich die Schotten nun in einer Situation, in der sie gegen ihren Willen aus der EU ausgeschlossen werden sollen. Theresa May sieht sich einer Vielzahl von Herausforderungen gegenüber. Schottland davon zu überzeugen, Teil des Vereinigten Königreichs zu bleiben, sollte auf ihrer Liste weit oben stehen.

Im Jahr 2014 lag eines der größten Hindernisse für die schottische Unabhängigkeit in der feindseligen Haltung anderer europäischer Staaten. In den Wochen vor dem Referendum betonte Spaniens Premierminister wiederholt seine ablehnende Haltung gegenüber dem Verbleib eines unabhängigen Schottlands in der EU, wohl aus der Sorge heraus, dass ein Erfolg Schottlands die Separatisten vor der eigenen Haustür inspirieren könnte. Zumindest sind die führenden EU-Politiker bei ihrer Linie geblieben, dass der einzige Weg für einen Beitritt Schottlands zur EU ein Beitrittsgesuch als unabhängiger Staat nach der formalen Abspaltung von Großbritannien sei.

Diese vorsichtige Haltung sollte aus rechtlichen wie auch aus ethischen Gründen zurückgewiesen werden. Rechtlich sind Schottlands fünfeinhalb Millionen Einwohner EU-Bürger, und als solche genießen sie die Rechte, die die EU-Bürgerschaft verleiht. Der Genuss dieser Rechte ist keine “interne britische Angelegenheit”, wie Donald Tusk kürzlich meinte, sondern Sache der Union selbst. Es gibt kaum einen Zweifel, dass Schottland alle notwendigen Kriterien für eine EU-Mitgliedschaft erfüllt. Die EU sollte daher unverzüglich prüfen, welche Möglichkeiten für einen Verbleib Schottlands in der EU ohne neuen Beitrittsprozess bestehen; von der “Übernahme” institutioneller Rechte, die gegenwärtig Großbritannien zustehen, bis zur Verabschiedung eines Übergangsvertrages, der es den Schotten erlaubt, ihre bestehenden Rechte beizubehalten, während die Beitrittsbedingungen ausgehandelt werden.

Der wohl wichtigere Punkt ist ethischer Natur. Der Beitritt Schottlands könnte leicht den Machenschaften großer Staaten zum Opfer fallen. Für Spanien böte ein Schottland, das für seine Unabhängigkeit kämpft, nur um dann festzustellen, dass es vom internationalen Handelsverkehr ausgeschlossen wird, ein willkommenes Argument im heimischen Kampf gegen den katalanischen Nationalismus. Für andere EU-Staaten könnten Schottlands Interessen ein leichtes Opfer in einem strategischen Entscheidungskampf über den Handel zwischen den verbleibenden 27 EU-Mitgliedern und der neuen britischen Premierministerin sein. Auch wenn die EU in den vergangenen zehn Jahren eine alarmierende Tendenz zur Marginalisierung kleinerer Staaten gezeigt hat, stellt der Fall Schottlands eine Chance dar zu zeigen, dass die Union ein Projekt ist, das ihren Bürgern dient, statt nur dem Kalkül ihrer mächtigsten Mitglieder.

Nach dem Brexit befindet sich die EU an einem Scheideweg: einen neuen europäischen Staat des 21. Jahrhunderts aufzubauen oder dem verbleibenden weltoffenen Teil Großbritanniens, der Teil der EU bleiben möchte, die Integration zu verweigern (und aller Wahrscheinlichkeit nach den Farages, Le Pens und Trumps dieser Welt zu überlassen). Schottland könnte nun Europa eine Möglichkeit eröffnen, zumindest etwas aus den Trümmern des Brexit zu retten.

Dieser Artikel erschien am 14. Juli 2016 zuerst auf EurActiv.

Über den Autor

  • Mark Dawson, Professor für European Law and Governance