Mit Macht und Recht

Seit 2014 kämpft Margrethe Vestager als EU-Kommissarin für Wettbewerb für faire Regeln im Europäischen Binnenmarkt. Erst diese Woche gab Irland dem langem politischen Druck nach, die Zahlung von 13 Milliarden Euro von Apple einzufordern. Damit ist sie auch ein Symbol für die Behauptung des Politischen und des Rechts in einer globalisierten Welt.

Bis vor zweieinhalb Jahren war Margrethe Vestager vor allem in ihrer dänischen Heimat bekannt. Sie galt als  „Eiskönigin“. Innerhalb der EU wurde sie später als „eiserne Lady“ oder auch die „Claire Underwood“ von Brüssel tituliert. So griffig diese Bezeichnungen sein mögen, so verkürzend sind sie. Die Tragweite ihres politischen Einsatzes wird bei einem genaueren Blick auf ihre Tätigkeit als EU-Kommissarin für Wettbewerb sichtbar. Einer der wichtigsten Ziele der Kommissarin für Wettbewerb besteht in der Einhaltung des EU-Kartellrechts. Sie muss sicherstellen, dass alle Akteure – egal wie groß, egal wie mächtig –, der Spielregeln des fairen Wettbewerbs und Innovation einhalten. Zusammen mit ihren 900 Mitarbeiterinnen ist sie immer dann zur Stelle, wenn der Verdacht der Wettbewerbsverzerrung in der Luft liegt. Vestagers Einsatz für fairen Wettbewerb im Binnenmarkt der Europäischen Union erhöht auch die Glaubwürdigkeit des Europäischen Projekts.

Margrethe Vestager gilt als zielstrebige Politikerin, die sich nicht vor großen Aufgaben scheut: Da Google den eigenen Shopping-Dienst gegenüber Wettbewerbern bevorzugt hatte, verhängte sie mit 2,4 Milliarden Euro nicht die Maximalsumme, aber das bislang höchste Bußgeld der Europäischen Union. Sie machte unmissverständlich klar, dass keine noch so mächtige Organisation über dem Recht stehe. Weitere noch laufende Verfahren gegen Googles Mutterkonzern Alphabet sind für die Konsumenten wahrscheinlich noch bedeutender. Auch Belehrungen sowie ein Wutausbruch des Apple-Chefs in Vestagers Büros halfen nur bedingt, um einen nichtöffentlichen Steuerdeal zwischen Apple und der irischen Regierung ohne rechtliches Nachspiel zu lassen. Da der Deal zu einem effektiven Steuersatz von ca. 0,005 Prozent für Apple und damit zu prognostizierten Steuermindereinnahmen von 13 Milliarden Euro für den irischen Fiskus führte, forderte die EU-Kommissarin die Rückzahlung dieser Summe inklusive Zinsen. Nach längerem politischen Druck durch andere EU-Mitgliedsländer gab Irland schließlich am 4. Dezember bekannt, ab Beginn nächsten Jahres mit der Überweisung der Summe auf ein Treuhandkonto zu beginnen, bis das endgültige Urteil des Europäischen Gerichtshofs in letzter Instanz über die Zahlung entscheiden werde. Zwar ist der Ausgang des Gerichtsverfahrens ungewiss, in jedem Fall wurde dadurch aber das Thema der Steuervermeidung wieder prominent platziert. Die Europäische Union sendet damit auch ein klares Signal an einflussreiche Akteure in der EU: Alle Firmen müssen die Markt-Regeln einhalten und dürfen nicht glauben, sie könnten sich über die politischen Vorgaben hinwegsetzen. In diesem Jahr entkam auch Facebook nicht den strengen Augen der Kommissarin für Wettbewerb und musste im Mai aufgrund falscher Angaben bei der Übernahme von WhatsApp 110 Millionen EUR nachzahlen. Vestager leitete viele weitere Verfahren gegen zahlreiche Unternehmen wegen Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht ein, darunter Fiat, Starbucks, Amazon.com aber auch Gazprom. Auch Cyprus Airways musste wegen des unrechtmäßigen Erhalts staatlicher Hilfsgelder 65 Millionen Euro zahlen. Da EUGH-Verfahren trotz einiger Reformen immer noch zu lange dauern, setzt Vestager sich auch für deren Beschleunigung ein.

Die EU-Kommissarin geht Konflikten nicht nur aus dem Weg, sondern versteht sie als ein zentrales Element politischer Arbeit: "Es gibt keine Politik ohne Widerspruch". Nach wie vor steht eine Gipsplastik von einer Hand mit ausgestrecktem Mittelfinger in ihrem Büro  - das Andenken einer dänischen Gewerkschaft, die damit gegen eine Reform der Sozialleistungen zu ihrer Zeit als Ministerin protestierten. Die Plastik ist keine Trophäe, sondern eine respektvolle Reminiszenz an einen vergangenen politischen Konflikte. Andersdenkenden im eigenen Berufsalltag Raum zu geben zeichnet eine waschechte Demokratin aus.

Zu Vestagers Grundregeln gehört auch, sich nie mit Lobbyisten, sondern immer mit Vorstandsvorsitzenden zu treffen, da sie die Verantwortung im Unternehmen tragen und nur sie es verändern können. Fast schon selbstverständlich kommt noch hinzu, dass sie als verheiratete Mutter von drei Kindern und karrierebewusste Frau ein Vorbild für Frauen in der Politik sein kann. Margrethe Vestager machte immer wieder klar, wofür sie sich politisch engagiert: „Politik sollte allen Menschen Möglichkeiten geben und sie dazu befähigen, freie Entscheidungen treffen zu können.“ Sie selbst ist alles andere als wirtschaftsskeptisch und nutzt viele Produkte der Firmen, die sie als Kommissarin in die Schranken weist. So passte es zu ihrem Stil, dass sie auf der einstündigen Pressekonferenz zur Forderung der Rekord-Strafzahlung durch Google noch im zweiten Satz die Innovationskraft des Konzerns betonte. Es sind diese Auftritte, die hoffen lassen, dass Europa eine leuchtende Zukunft als Wirtschaftsstandort bevorsteht, in der jedoch nicht das Recht des Stärkeren, sondern die Stärke des Rechts gilt. Somit gibt sie indirekt auch eine gelebte Antwort darauf, wie politische Auseinandersetzungen nicht primär zwischen Nationen, sondern zwischen Demokratien und global agierenden Unternehmen geführt werden können, und damit die Interessen der Bürgerinnen in den Mittelpunkt zu stellen.

Das scheinbare Damoklesschwert des Verlusts von Standortvorteilen beindruckt sie hierbei schon lange nicht mehr, da es vor allem dann bedrohlich über Politikern schwebt, wenn sich die 28 Mitgliedsländer im Kampf um den niedrigsten Steuersatz gegenseitig ausspielen lassen. An einem 500 Millionen Menschen umfassenden Wirtschaftsraum kommt auch das größte Unternehmen nicht so leicht vorbei. Auch aus diesem Grund ist es wie im Fall Apples in Irland so wichtig, die unterschiedlichen Interessen der Mitgliedsländer in die Öffentlichkeit zu tragen. Dadurch wird sichtbarer, dass sich Politik auch dadurch oft kleiner als notwendig macht, dass sie ihren Standpunkt auf ein „nationales Interesse“ verengt und verkürzt. Somit kämpft Vesthager auch gegen das vereinfachende Bild der „guten“ Politik gegen die „böse“ Wirtschaft. Ungerechtigkeit entsteht immer nur im Zusammenspiel beider Seiten.

So nutzte sie auch die schleppenden Fortschritte der EU-Finanzminister bei der Festlegung einer gemeinsamen Bemessungsgrundlage für die Unternehmensbesteuerung mit Hilfe eines kleinen Tricks: Als Kommissarin für Wettbewerb ist sie vor allem für die Vermeidung von Kartellen zuständig und nicht für Steuern. Indem sie staatliche Steuerrabatte  für Großkonzerne als unerlaubte staatliche Beihilfen für definierte, erklärte sie sich für zuständig  und war mittendrin in der Luxleaks-, Paradise und Panama-Papers-Debatte. Spätestens seitdem trauen nicht wenige Margrethe Vestager sogar die Nachfolge des scheidenden EU-Kommissionspräsidenten Juncker zu.

Die Politikerin Vestager steht somit für mindestens Dreierlei: für kompetente Politik mit Haltung, für die Durchsetzung europäischer Demokratien und damit Europas in einer globalisierten Welt sowie für eine politisch erfolgreiche und legitime EU der Bürger, die Mut macht, weiterhin auch die ganz großen Fragen politisch anzugehen. Gerade in Zeiten, in denen viele Bürgerinnen den Glauben an die erfolgreiche Durchsetzung demokratisch legitimierter Interessen verlieren, ist das ein großer Verdienst. Man muss nicht mit ihr politisch übereinstimmen, um das anzuerkennen. Für mich ist sie deshalb, obwohl nicht gewählt,die Politikerin des Jahres 2017.

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